Die folgenden Thesen greifen wesentliche Impulse aus der diesjährigen Tagung des Katholischen Forums auf und können als Bezugspunkt für die weiterführende Diskussion dienen. Die sieben Thesen beleuchten die verschiedenen Facetten des „Sorge tragens für…“, des „sich zuständig fühlen für…“ und des „verantwortlich sein für ein gute Leben im gemeinsamen Haus“.
1. Vieles ist fragwürdig geworden. Wir leben in verwirrenden Zeiten und ein zunehmendes Gefühl der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit macht sich breit. „Sorge tragen für das gemeinsame Haus …“: Dieses Wort ruft uns heraus aus Lethargie und Gleichgültigkeit und benennt die uns heute gestellte Aufgabe. Papst Franziskus benennt in seinen Enzykliken Laudato sii und Fratelli tutti in eindringlichen Worten die Erde als unser gemeinsames Haus und Leihgabe Gottes an alle Menschen. Eine Haltung der Gastfreundschaft und der Geschwisterlichkeit, eine Haltung des Respekts gegenüber allen Lebewesen und der unbelebten Natur, eine Haltung der Offenheit und Dankbarkeit bilden die Grundlagen für ein gutes Zusammenleben im „gemeinsamen Haus“.
2. Das Wort von der Erde als unserem „gemeinsamen Haus“ lädt uns ein, über Geschwisterlichkeit neu nachzudenken. Geschwisterlichkeit weist zunächst auf die Verbundenheit aller Menschen untereinander hin. Franz von Assisi geht aber in seinem Sonnengesang weit darüber hinaus: Er nennt die Gestirne, Feuer, Wasser und die Erde Bruder und Schwester. Eine geschwisterliche Haltung lässt sich vom Schrei der Erde und der auf ihr lebenden Geschöpfe ebenso berühren wie von der Klage der Armen (Laudato sii). Eine geschwisterliche Haltung trägt Sorge für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und schottet sich nicht ab vor der Not des Anderen. Gleichgültigkeit dem Anderen gegenüber findet im gemeinsamen Haus keinen Ort.
3. Eine Haltung der Gastfreundschaft zeigt sich durch Offenheit und die Bereitschaft zum Teilen von Raum und Zeit. Gastfreundschaft antwortet auf den Anruf, auf den vielleicht auch störenden Ruf des Anderen, des Fremden, des Bedürftigen. Gastfreundschaft ist die besondere Gelegenheit, das Geschenk der Begegnung mit dem Anderen anzunehmen. Für Christinnen und Christen bedeutet das die Begegnung mit Christus selbst. Im „gemeinsamen Haus“ sind auch nicht-menschliche Geschöpfe, Pflanzen und Tiere, auf Gastfreundschaft angewiesen. Darin liegt eine besondere Verantwortung des Menschen. Das Bewusstsein, dass wir selbst nur Gast auf Erden sind, kann uns dabei behilflich sein, der Herausforderung zur Gastfreundschaft gerecht zu werden.
4. Sorge zu tragen für das gemeinsame Haus verpflichtet uns auch dazu, nach den Ursachen von Konflikten, von Kriegen und von Gewalt zu fragen. Direkte Gewalt, in welcher Form auch immer, ist ursächlich verknüpft mit kultureller und struktureller Gewalt. Ein solches erweitertes Verständnis von Gewalt führt zu einem erweiterten Begriff von Frieden. Frieden lässt sich nicht auf eine festgefügte Ordnung innerhalb einer Gemeinschaft oder zwischen souveränen Mächten reduzieren. Ein erweiterter Friedensbegriff umfasst soziale Gerechtigkeit, die Bewahrung der Schöpfung und Vertrauen zwischen den Völkern. „Wir müssen untereinander Frieden schließen, um mit der Natur Frieden schließen zu können. Und wir müssen mit der Natur Frieden schließen, um untereinander Frieden schließen zu können“, so Michel Serres. Aktive Gewaltlosigkeit ist dabei unabdingbar.
5. Die öffentliche und veröffentlichte Sprache – vielfach verstärkt durch die sogenannten „neuen“ oder „sozialen“ Medien – ist ein schonungsloser Indikator für das in einer Gesellschaft vorhandene Maß an Wertschätzung und Respekt. Das gilt in besonderem Maße auch für die im politischen Diskurs verwendete Sprache. Die digitale Revolution hat dazu geführt, dass über online-Plattformen ungefiltert private und öffentliche Aussagen und Meinungen, fundierte Recherchen und Verschwörungstheorien, bewegte und unbewegte Bilder, seriöse und manipulierte Nachrichten in den gesellschaftlichen Diskurs hineingespült werden. „Sprache“ in ihren vielfältigen Ausdrucksformen ist ein mächtiges Werkzeug, das in die Gesellschaft hinein wirkt. Dieses Werkzeug kann spalten oder aber zu einer Entgiftung der gefährdeten gemeinsamen Öffentlichkeit beitragen. Eine bedachte öffentliche Sprache kann am Netz des sozialen Zusammenhalts weiterknüpfen und einer gastfreundlichen und geschwisterlichen Welt den Weg bereiten.
6. „Sorge tragen für die Welt, die uns umgibt und uns erhält, bedeutet Sorge tragen für uns selbst. Wir müssen uns aber zusammenschließen in einem „Wir“, welches das gemeinsame Haus bewohnt.“ (Fratelli tutti, 17). Ein solches „Wir“ schließt nicht aus, es findet sich nicht in der Abgrenzung zum Anderen zusammen, im Gegenteil. Es geht darum, gemeinschaftlich die Grenzen dafür festzulegen für das, was genug ist und deshalb ausreichend und gut für unsere Gesellschaft. Eine einfache Lebensführung, Genügsamkeit, Verzicht und Mäßigung bilden eine bleibende und notwendige Orientierung für ein gutes Leben, für ein Leben in Würde. Sie sind auch Grundlage und Voraussetzung für ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden.
7. „Sorge tragen für das gemeinsame Haus…“ bedeutet auch, dessen Schönheit und Einzigartigkeit wertzuschätzen und dazu beizutragen, dass sie erhalten bleiben: Die vielfältigen Landschaften, das Wasser im Boden, in den Flüssen, Seen und Meeren, die Pflanzen und Tiere, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Völker und Menschen mit ihren vielen Sprachen und Ausdrucksformen, der kulturelle Reichtum, die Werkzeuge und Hilfsmittel, die uns in unserem Tun unterstützen, die Bekömmlichkeit dessen, was uns ernährt und die Fähigkeit, Frieden zu schließen. Sorge zu tragen für das gemeinsame Haus heißt auch, sich an „unserer Schwester, Mutter Erde, die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter“ zu erfreuen, wie es Franz von Assisi im Sonnengesang ausdrückt. Im Lobpreis findet diese Freude ihren angemessenen Ausdruck.